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Die amerikanische Psychose

Was geschieht mit einer Gesellschaft, die Realität und Illusion nicht mehr voneinander unterscheiden kann?

Links: Tom Mihalek/AFP. Rechts: Loe Russell

Die USA, momentan fest im Würgegriff der Gefahr einer drohenden Selbstauflösung wie so viele zugrundegehende Imperien, sind ein Land wo man begeistert von Illusionen ist. Viel emotionale und intellektuelle Energie wird dort in Triviales und Absurdes investiert. Die Wände bröckeln bereits, und doch ist man fasziniert von stumpfer Bühnenkunst der Promikultur. Diese Promikultur liefert eine alberne Berechtigung für düsteren Voyeurismus, wenn es um Demütigung, Schmerz, Schwäche von und Verrat an anderen Menschen geht. Jeden Tag fesselt eine neue sensationslüsterne Saga das Land, egal ob über Michael Jackson, Britney Spears oder John Edwards ? und das trotz aller Bankpleiten und Kriege, trotz steigender Armut und der Kriminalität der Finanzbranche.

Tugenden, die einen Staat aufrechterhalten, wie Ehrlichkeit, Selbstaufopferung, Transparenz und Fähigkeit zum Teilen werden jeden Abend lächerlich gemacht, und zwar dann, wenn immer noch an antiquierte Verhaltensweisen glaubende Trottel aus irgendwelchen Reality-Shows fliegen. Die Konkurrenten um Preisgeld und ein bisschen flüchtigen Ruhm dürfen unter dem Jubel von Millionen Zuschauern abstimmen und die unerwünschte Person ?verschwinden lassen?. In den letzten Episoden von ?America?s Next Top Model? verschwindet die in der betreffenden Folge herausgewählte Kandidatin aus dem Gruppenfoto auf der Leinwand. Die zur Seite Gestoßenen existieren für die Fernsehzuschauer nicht mehr. Promis, die in der Öffentlichkeit keinerlei Beachtung mehr finden, sei sie gut oder schlecht, verschwinden einfach. Diese Shows lehren uns unentwegt: das Leben ist eine brutale Welt des totalen Wettbewerbs unter dem Diktat des Verlangens nach Ruhm und Aufmerksamkeit.

Unsere Kultur der schamlosen Selbstüberhöhung, fest verankert im amerikanischen Charakter, ermöglicht es uns, all unsere Gegner zu demütigen. Wir denken schließlich, dass wir nur weil wir das Potential haben, einen Krieg zu beginnen, auch das Recht haben, einen Krieg zu beginnen. Die Verlierer haben es verdient, ausgelöscht zu werden. Die, die es nicht schaffen und für hässlich, unwissend und arm gehalten werden, werden belächelt und durch den Kakao gezogen. Menschen werden wie Schachteln für Fast-Food benutzt und weggeworfen. All die weggeworfenen Menschen bevölkern jetzt in großer Anzahl Arbeitsämter, Gefängnisse und Suppenküchen.

Der Egokult wird die USA vernichten. Er beinhaltet klassische psychopathische Symptome: oberflächlicher Charme, Prunk und Selbstüberschätzung, Bedürfnis nach andauernder Stimulation; einen Hang zu Lug, Trug und Manipulation sowie die Unfähigkeit, Reue oder Schuld zu empfinden. Michael Jackson hatte all diese Eigenschaften, angefangen bei seinen unechten Hochzeiten über Bilder von ihm im Kostüm eines Königs über seinen unstillbaren Hunger nach neuen Spielzeugen bis hin zu seinen fragwürdigen Beziehungen mit kleinen Jungen. Eben diese Ethik wird von Firmen unterstützt. Es ist die Ethik des uneingeschränkten Kapitalismus. Es ist falsch, zu glauben, dass persönlicher Stil und persönliches Vorankommen individualistisch sind und mit demokratischer Gleichheit gleichzusetzen sind. Im ganzen Land gilt: Image vor Substanz, Illusion vor Wahrheit. Und genau darum blinzeln Investmentbanker verwirrt, wenn man fragt, ob sie einen moralischen Sinn in den Milliardenprofiten sehen, die sie durch den Verkauf toxischer Anleihen gemacht haben.

Der Egokult gibt uns das Recht, alles zu bekommen, was wir haben wollen. Wir dürfen alles tun und sogar Freunde in unserer unmittelbaren Umgebung lächerlich machen und zerstören, um Geld zu machen, glücklich zu sein und berühmt zu werden. Wenn Ruhm und Reichtum erst mal da sind, begründen sie sich moralisch selbst. Es ist egal, wie man dorthin gelangt. Diese völlig pervertierte und verdrehte Ethik hat uns Investmentbanken wie Goldman Sachs beschert, die wissentlich die Weltwirtschaft an den Rand eines Zusammenbruchs brachten und gleichzeitig das Geld zehntausender Kleinaktionäre verspekulierten. Die Aktionäre hatten die Aktien als Altersvorsorge oder als Geldanlage zur Finanzierung des Studiums ihrer Kinder gekauft. Die Bosse dieser Banken machten sich mit hunderten von Millionen Dollar an Boni und Ausgleichszahlungen aus dem Staub, fast wie der Gewinner einer Reality Show, der andere für den Erfolg belogen und manipuliert hat. Die Ethik der Wall Street funktioniert wie die Ethik des Ruhms. Diese beiden verschmelzen zu einem bizarren Glaubenssystem, welches ausschließt, dass das Land zu einer realitätsgesteuerten Politik zurückfinden könnte oder den internen Zusammenbruch verhindern könnte. Eine Gesellschaft, die Wirklichkeit und Illusion nicht unterscheiden kann, wird sterben.

Die Verlockungen unserer Konsumkultur gibt es nun für die meisten Bürger auf unserem Weg in den Zusammenbruch nicht mehr. Der Unternehmerstaat ist nicht mehr fähig, das Land durch mehr Kreditvergabe und ein Überangebot von billigen Massenkonsumgütern ruhig zu stellen. Die Arbeitsplätze, die wir abbauen, sind für immer verloren. Lawrence Summers, Wirtschaftswissenschaftler im Weißen Haus, gibt dies zwischen den Zeilen zu, wenn er von einem ?Aufschwung ohne Arbeitsplätze? spricht. Der Glaube, Demokratie sei gleichbedeutend mit Auswahlmöglichkeit zwischen konkurrierenden Marken und der Anhäufung persönlichen Reichtums auf Kosten anderer, stellt sich als Betrug heraus. Freiheit darf nicht länger mit freien Märkten gleichgesetzt werden. Die Probleme der Armen werden rasch zu den Problemen der Mittelschicht, zumal die Arbeitslosenversicherung ausläuft. Durch einen neuen Klassenkampf, einst unter der fröhlichen Illusion begraben, dass wir alle vor einer Ära des Wohlstands im uneingeschränkten Kapitalismus stehen, wird Rache genommen werden.

Die USA ertrinken in Billionenschulden, die nie getilgt werden können und treiben nur noch an der Wasseroberfläche, weil sie wie die Wahnsinnigen jeden Tag Staatsanleihen für 2 Milliarden Dollar an China verkaufen. 2009 verloren 2,8 Millionen Amerikaner ihr Heim durch Zwangsräumung oder Beschlagnahmung? beinahe 8000 täglich ? und die USA schauen tatenlos zu, wie dieses Jahr noch weitere 2,4 Millionen dazukommen. Die Bush-Regierung wird trotz offensichtlicher Kriegsverbrechen wie der Anwendung von Folter nicht rechtlich belangt und es werden keinerlei Schritte unternommen, Bushs Geheimhaltungsgesetze abzubauen oder das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit (Habeas Corpus Act) wieder in Kraft zu setzen. Die amerikanische Infrastruktur wird marode. Budgetdefizite treiben einzelne Bundesstaaten in den Bankrott und erzwingen dadurch die Schließung von Schulen oder Parks. Die Kriege im Irak und in Afghanistan, in denen Billionen Dollar vergeudet wurden, scheinen kein Ende zu nehmen. 50 Millionen Amerikaner leben in Armut und beinahe ebenso viele werden in die Kategorie ?fast arm? eingeordnet. Jeder achte Amerikaner und jedes vierte amerikanische Kind braucht Lebensmittelbeihilfe. Trotz allem bleiben wir ein Land, das von heiterem Geplauder und heiteren Gedanken gefangen gehalten wird. Wir akzeptieren weiterhin die Illusion vom unvermeidlichen Fortschritt, persönlichen Erfolg und steigenden Wohlstand. Die Realität darf kein Hindernis für die Erfüllung von Wünschen sein.

In einer Kultur, die in einer Scheinwelt lebt, wird ein kindischer Zustand der permanenten Infantilität aufrecht erhalten. Wenn die Kluft zwischen Illusion und Realität immer größer wird und wir plötzlich begreifen, dass UNSER Haus zwangsgeräumt wird und UNSERE Arbeit für immer verloren ist, reagieren wir wie Kinder. Wir schreien und rufen nach einem Erlöser, der uns Rache, moralische Erneuerung und neuen Ruhm verspricht. Das ist alles nicht neu. Ein wütender und heftiger Gegenschlag der betrogenen und zornigen Bevölkerung, die intellektuell, emotional und psychologisch nicht auf den Kollaps vorbereitet ist, wird Demokraten und Republikaner größtenteils vernichten und die USA in ein neues dunkles Zeitalter stürzen. Der wirtschaftliche Zusammenbruch in Jugoslawien brachte Slobodan Milosevic hervor. Die Weimarer Republik spie Adolf Hitler aus. Der Zusammenbruch des zaristischen Russlands öffnete Lenin und den Bolschewiken die Türen. Intrigante proto-faschistische Sonderlinge, christliche Demagogen bis hin zu großmäuligen Talkshowmoderatoren, die wir jetzt noch naiv als Clowns abtun, werden Wiedergutmachung und moralische Erneuerung versprechen und die Nachfolge antreten.

Der Niedergang der USA hat lange vor der letzten Wirtschaftskrise und den Kriegen im Irak und in Afghanistan begonnen. Er begann vor dem Ersten Golfkrieg und auch vor Ronald Reagan. Der Harvard-Historiker Charles Maier ist der Meinung, dass er begann, als wir von einem ?Produktionsimperium? zu einem ?Konsumimperium? wurden. Gegen Ende des Vietnamkrieges fraßen die Kriegskosten Präsident Lyndon B. Johnson?s ?Great Society? auf und die heimische Ölproduktion begann unerbittlich zu fallen. In diesem Zeitraum wandelte sich unser Land von einem, das hauptsächlich produzierte, in eines, das hauptsächlich konsumierte. Wir fingen an, Kredite aufzunehmen, um den Konsum und ein nicht mehr finanzierbares Imperium zu stabilisieren. Wir begannen, unseren unstillbaren Durst nach Öl durch den Einsatz von Gewalt vor allem im Nahen Osten zufrieden zu stellen. Die Illusion vom Wachstum und vom Wohlstand ersetzte reales Wachstum und realen Wohlstand. Jetzt ist die Rechnung fällig. Die gefährlichsten Feinde der USA sind nicht radikale Islamisten, sondern diejenigen, die uns die pervertierte Ideologie des unbeschränkten Kapitalismus und der Globalisierung verkauft haben. Sie haben die Fundamente unserer Gesellschaft in die Luft gesprengt. Im 17. Jahrhundert wären diese Spekulanten gehängt worden. Heute regieren sie und verprassen Milliarden Steuergelder.

Nun steigt der Druck, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ergreifen immer größere Teile der Bevölkerung. Als Reaktion werden unternehmerische und politische Kontrollinstrumente verstärkt, um Unruhen und Instabilität zu verhindern. Unternehmerstaat bedeutet immer Sicherheitsstaat. Deshalb setzte die Bush-Regierung den Patriot Act und seine Neuauflage durch, hob den Habeas Corpus Act auf, lehnte freie und faire Wahlen mit nachvollziehbaren Auszählmethoden ab und ermöglichte praktisch Urteile bei Gericht ohne formal korrektes Verfahren sowie das unbefugte Abhören amerikanischer Bürger. Hinter diesen Maßnahmen steht keineswegs die Absicht zur Terrorismusbekämpfung oder zur Verbesserung von Sicherheitsmaßnahmen. Das eigentliche Motiv ist, die interne Kontrolle zu ergreifen und zu behalten, es geht um unsere Überwachung.

Selbst angesichts bevorstehender Katastrophen versichern uns die Massenmedien weiterhin, dass unser Leben harmonisch und vollkommen sein kann, wenn wir die Augen schließen, wenn wir uns das Gewünschte bildlich vorstellen, wenn wir Selbstvertrauen haben, wenn wir Gott wissen lassen, dass wir an Wunder glauben, wenn wir unsere innere Stärke nutzen, wenn wir begreifen, dass wir außergewöhnlich sind, wenn wir uns auf das Glück fokussieren. Dieser kulturelle Rückzug in die Illusion, egal ob von Positivpsychologen, Hollywood oder christlichen Predigern verbreitet, ist wie Glaube an Zauberei. Wertlose Hypotheken und Schulden verwandeln sich in Wohlstand. Die Zerstörung unserer Produktionsbasis bedeutet eine Chance zum Wachstum. Entfremdung und Zukunftsangst mutieren zu einer heiteren Konformität. Eine Nation, die illegal Kriege führt und in überseeischen Gefängniskolonien offen Folter praktiziert, wird zur größten Demokratie der Welt. Und wir werden dadurch davon abgehalten, zurückzuschlagen.

Widerstandsbewegungen müssen sich ihre Vorbilder nun in den langen dunklen Zeiten der Sklaverei, den Jahrzehnten der Unterdrückung in der Sowjetunion und in den verfluchten Zeiten des Faschismus suchen. Das Ziel wird nicht länger sein, das System zu reformieren, sondern Wahrheit, Zivilisiertheit und Kultur vor einer massenhaften Verseuchung zu bewahren. Wie in allen anderen totalitären Gesellschaften erfordert dies einen schizophrenen Lebensstil. Unser privates und öffentliches Benehmen werden oft stark voneinander abweichen. Widerstand wird oft subtil und nuanciert sein. Er geschieht nicht zum kurzfristigen Gewinn, sondern um unsere Integrität zu beweisen. Rebellion wird endlich ein endgültiges, vielleicht leicht zu definierendes Ziel haben. Je mehr wir uns der Kultur allgemein entziehen, desto mehr Freiraum werden wir haben, um sinnvolle Leben zu führen, desto fähiger werden wir sein, die von Massenmedien verbreitete Illusionsflut zu ignorieren und desto eher können wir Vernunft in einer wahnsinnigen Welt bewahren. Die Fähigkeit zum Durchhalten wird das Ziel sein.

Original title: 
American Psychosis