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Eine Einordnung von „Occupy“

Der wahrscheinlich größte noch lebende Philosoph Immanuel Wallerstein behauptet, dass alle großen Revolutionen seit 1789 tatsächlich Weltrevolutionen waren.

Thomas Good / Next Left Notes

Der wahrscheinlich größte noch lebende Philosoph Immanuel Wallerstein behauptet, dass alle großen Revolutionen seit 1789 tatsächlich Weltrevolutionen waren.

Die Französische Revolution hat vordergründig nur in einem Land stattgefunden, hat aber in Wirklichkeit die gesamte nordatlantische Welt so tiefgreifend verändert, dass gerade einmal 20 Jahre später Ideen, die vorher als verrückt und grenzwertig galten???dass sozialer Wandel gut ist, dass Regierungen den sozialen Wandel bewältigen sollen, dass Regierungen ihre Legimitation aus einer Einheit namens "Volk" beziehen ? so tief im Gemeinsinn verwurzelt waren, dass selbst der schwerfälligste Konservative Lippenbekenntnisse dazu ablegen musste. 1848 brachen beinahe gleichzeitig Revolutionen in 50 verschiedenen Ländern aus, von der Walachei bis nach Brasilien. In keinem Land übernahmen die Revolutionäre die Macht, jedoch entstanden hinterher fast überall von der Französischen Revolution inspirierte Institutionen???z.B. allgemein zugängliche Bildungssysteme.

Dieses Muster tauchte im 20. Jahrhundert erneut auf. Die "zehn Tage, die die Welt erschütterten" 1917 fanden in Russland statt, und dort gelang es Revolutionären, die Macht im Staat zu übernehmen. Was Wallerstein als die "Weltrevolution 1968" bezeichnet, war jedoch mehr als 1848: die Welle breitete sich von China über die damalige Tschecheslowakei nach Frankreich und Mexiko aus, nirgendwo wurde die Macht übernommen, aber trotzdem begann ein tiefgehendes Umdenken im Hinblick darauf, was eine Revolution bedeuten könnte.

Dennoch war diese Sequenz im 20. Jahrhundert neuartig, da 1968 die Errungenschaften von 1917 nicht festigte???de facto war 1968 der erste wichtige Schritt in die andere Richtung. Die russische Revolution bedeutete selbstverständlich die ultimative Verherrlichung des jakobinischen Ideals der Veränderung der Gesellschaft von oben her. Die Weltrevolution von 1968 war im Geiste anarchistischer. Das ist ein seltsamer Widerspruch, da Anarchismus in den späten 60er Jahren als soziale Massenbewegung größtenteils verschwunden war. Dennoch durchdrang sein Geist alles: die Revolte gegen bürokratischen Systemzwang, die Ablehnung von Parteipolitik, das Engagement für die Schaffung einer neuen, befreienden Kultur, die echte individuelle Selbstverwirklichung ermöglichen sollte.

Das wichtigste und nachhaltigste Vermächtnis der Weltrevolution 1968 war der moderne Feminismus. Nur durch die vom radikalen Feminismus eingeführten Richtlinien und sensiblen Ideen wie die hierarchiefreien bewusstseinserweckenden Diskussionszirkel, die Entwicklung eines Prozesses zur Konsensfindung, die Wichtigkeit der Abschaffung jeglicher Form von Ungleichheit, egal wie tief sie im Alltag verwurzelt war, konnte der Anarchismus als soziale Bewegung erneut Form annehmen.

In den letzten Jahren haben wir eine Art Abfolge kleiner 68er Revolutionen erlebt. Die Aufstände gegen sozialistische Staaten, angefangen auf dem Platz des Himmlischen Friedens bis hin zum Höhepunkt des Zusammenbruchs des Sowjetreiches, begannen so, obwohl sie rasch umgelenkt wurden und in einer kapitalistischen Rückgewinnung des Geistes der 60er-Rebellionen gipfelten, die heute als "Neoliberalismus" bekannt ist. Nachdem die Weltrevolution der mexikanischen Zapatisten ? genannt der vierte Weltkrieg ? 1994 begonnen hatte, kam es in einer solchen Dichte und Schnelligkeit zu kleinen 1968s, dass sich der Prozess beinahe institutionalisiert zu haben schien. Seattle, Genua, Cancun, Québec, Hong Kong ... Und er wurde in der Tat durch von den Zapatisten mitbegründete Netzwerke institutionalisiert, auf Basis einer Art Mini-Anarchismus, beruhend auf den Prinzipien der dezentralen direkten Demokratie und des unmittelbaren Handelns. Die Aussicht auf eine echte globale Demokratiebewegung scheint vor allem die US-Behörden nun so in Angst versetzt zu haben, dass sie in einen richtigen Panikmodus verfielen. Natürlich gibt es ein traditionelles Gegenmittel bei einer Bedrohung durch Massenmobilisierung von unten. Man fängt einen Krieg an, egal gegen wen. Es geht nur darum, einen möglichst umfassenden Krieg zu führen. In diesem Falle hatte die US-Regierung den außergewöhnlichen Vorteil eines triftigen Grundes ? ein Gesindel bisher wirkungsloser Islamisten vom rechten Flügel, die, einmalig in der Geschichte, einen wilden, ambitionierten Terrorplan ausgeheckt hatte und ihn tatsächlich ausgeführt hatte. Anstatt nun einfach die Verantwortlichen aufzuspüren, begannen die USA, Waffen im Wert von Milliarden auf alles Erdenkliche zu werfen. Zehn Jahre später scheint die daraus folgende Verkrampfung wegen der imperialen Überansprüche die Basis des amerikanischen Imperiums untergraben zu haben. Jetzt erleben wir den Prozess des Zusammenbruchs dieses Imperiums.

So ergibt es Sinn, dass die Weltrevolution 2011 als Rebellion gegen Satellitenstaaten der USA begann, so wie die Revolution, die die Sowjetmacht zu Fall bringen sollte, in Staaten wie Polen und der Tschecheslowakei ihren Anfang nahm. Die Welle der Rebellion in Nordafrika schwappte bald über das Mittelmeer nach Südeuropa, und dann, anfangs noch eher zögerlich, über den Atlantik nach New York. Sobald dies geschehen war, war sie innerhalb von Wochen überall angekommen und ausgebrochen. Momentan ist es sehr schwer, vorherzusagen, wie weit all dies am Ende gehen wird. Wirklich historische Ereignisse bestehen schließlich genau aus diesen Momenten, die man nicht vorhersagen hätte können. Könnten wir gerade einem fundamentalen Umbruch wie 1789 beiwohnen ? nicht nur ein Umbruch der globalen Machtverhältnisse, sondern ein Umbruch in unserem allgemein grundlegenden politischen Denken? Das zu behaupten ist unmöglich, aber es gibt Gründe, optimistisch zu sein.

Lassen sie mich diesen Artikel durch die Aufzählung dreier dieser Gründe beenden.

Erstens befand sich in keiner Weltrevolution zuvor das Zentrum der Mobilisierung im Zentrum des Imperiums selbst. Großbritannien, die große imperiale Macht des 19. Jahrhunderts, war von den Aufständen 1789 und 1848 kaum betroffen. Gleichermaßen blieben die USA unberührt von den großen revolutionären Momenten des 20. Jahrhunderts. Entscheidende Straßenschlachten spielen sich üblicherweise nicht im Zentrum des Imperiums ab, auch nicht in den ausgebeuteten Randgebieten, sondern in den Gebieten, die man als zweite Ebene bezeichnen kann: nicht London, sondern Paris, nicht Berlin, aber St. Petersburg. Die Revolution 2011 begann nach diesem bekannten Muster, hat sich aber tatsächlich ins Zentrum des Imperiums selbst ausgebreitet. Wenn das so weitergeht, ist es noch nie zuvor so geschehen.

Zweitens können die Machteliten diesmal keinen Krieg beginnen. Das haben sie schon versucht. Was das angeht, können sie hier keine Karte mehr ausspielen. Das ist ein großer Unterschied.

Schließlich hat die Verbreitung feministischer und anarchistischer Gedanken die Möglichkeit eines tiefgreifenden kulturellen Umbruchs eröffnet. Nun die wichtigste Frage: können wir eine wirklich demokratische Kultur schaffen? Können wir unsere grundlegenden Konzepte, wie Politik gezwungenermaßen sein muss, ändern? Weiße Anzugträgern mittleren Alters an Orten wie Denver oder Minneapolis, die geduldig den Konsensprozess von heidnischen Priesterinnen oder Mitgliedern von Gruppen wie den "Anarchistischen Farbigen" lernen, um an ihrer örtlichen Generalversammlung teilnehmen zu können (das gibt es wirklich? es ist wahr! Man hat es mir erzählt) ist für mich wahrscheinlich das bisher dramatischste Bild, das die Occupy-Bewegung hervorgebracht hat.

Natürlich könnte dies auch nur der erste Moment einer weiteren Runde von Regeneration und Niederlagen sein. Sollten wir jedoch die Entstehung eines neuen 1789 beobachten ? einen Moment, an dem sich unsere grundlegenden Vorstellungen von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft ändern werden ? dann sollte es genau so anfangen.

Original title: 
Situating Occupy