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Ökologie des Verstands

Über die Geburt einer Bewegung.

Über tausende von Generationen hinweg wuchsen wir Menschen in der Natur auf. Unsere Lehrmeister waren Flora und Fauna, unsere Lehrbücher Gewitter und Sterne am Nachthimmel. Unsere geistigen Landschaften waren wie Wälder, Oasen und Deltas, um die herum chaotisch, wild und fruchtbar unsere Kulturen keimten.

In den letzten Generationen haben wir jedoch fast alle den Bezug zur natürlichen Welt verloren und sind in virtuelle Reiche abgetaucht. Heute konkurriert unser künstliches Umfeld mit der Natur um die Rolle als Antriebskraft in unserem Leben, und unser geistiges Umfeld ist jetzt das Gebiet, auf dem sich unser menschliches Schicksal entscheiden wird. Durch das Auswandern aus einem natürlichen Umfeld haben wir nicht nur unseren Wohnsitz verlagert, sondern auch den Kontext, in dem wir leben, grundlegend verändert.

Mit diesem Übergang in ein neues geistiges Umfeld geht ein exponentieller Anstieg mentaler Erkrankungen einher. Weltweit gesehen leidet die Menschheit nun an einer Epidemie von unkontrollierbaren Ängsten, Stimmungsschwankungen und Depressionen. Die Vereinten Nationen sagen voraus, dass es bereits im Jahre 2020 mehr psychische Erkrankungen als Herzerkrankungen geben wird.

Was passiert da? Warum brechen wir mental zusammen?

Fragt man Psychologen, was genau die psychopathologischen Symptome der menschlichen Spezies generell verstärkt, werden sie einige Dinge auflisten: Zusammenbruch der Gemeinschaft, Unsicherheit betreffs sozialer Rollen, der Stress der Moderne und der Globalisierung und vielleicht sogar Chemikalien in Luft, Wasser und Nahrungsmitteln, die unsere Gehirne in bisher unbekannter Weise beeinflussen. Andere machen die tausenden von aggressiven, erotisch aufgeladenen Werbebotschaften, die unser Gehirn täglich aufnehmen muss, zum Sündenbock. Wieder andere sagen, dass exzessive Internetnutzung zu Suchtverhalten und Depression führt und dass die digitale Revolution möglicherweise unsere Gehirnstrukturen auf ungesunde Weise neu vernetzt. Niemand ist sich sicher.

Aber es ist spannend, zu raten.

Der folgende Text stellt nur einen Anfang dar, eine kleine Einführung in einige der geistigen Schadstoffe, Informationsviren und psychischen Schockerlebnisse, mit denen wir täglich konfrontiert werden ? ein Überblick über die Bedrohungen für unsere ?geistige Ökologie?.

Für zahllose Generationen bestanden Umgebungsgeräusche aus Regen, Wind oder Unterhaltungen anderer. Jetzt deckt die Begleitmusik das ganze Tonspektrum ab und ist nicht mehr entwirrbar. Vom monotonen Getöse des Verkehrs bis zum Dröhnen des Kühlschranks und dem Summen des Monitors sickern kontinuierlich verschiedene Arten von Lärm (blaues, weißes, rosa und schwarzes Rauschen) in unsere Gehirne. Und die Lautstärke wird ständig weiter aufgedreht. Zwei oder vielleicht sogar drei Generationen sind bereits süchtig nach Stimuli. Können ohne Hintergrundmusik nicht arbeiten. Ohne Kopfhörer nicht joggen. Ohne iPhone unter dem Kopfkissen nicht einschlafen. Das Wesen unserer postmodernen Ära liegt wahrscheinlich in diesem unaufhörlichen Wirrwarr in unserem Gehirn begründet. Will man den Sinn der Welt jenseits des Getöses ergründen, ist das, wie wenn man neben einer Autobahn wohnt ? man gewöhnt sich daran, allerdings wird der Aufmerksamkeitspegel und das individuelle Wohlbefinden dadurch stark beeinträchtigt.

Stille kommt uns heute seltsam vor und könnte aber genau das sein, was wir brauchen. Für geistige Gesundheit könnte Stille genauso wichtig sein wie saubere Luft und Wasser für einen gesunden Körper. In einer sauberen, ruhigeren geistigen Umgebung werden wir uns beruhigen und Depressionen können sich lösen.

Vom Moment an, an dem der Wecker am Morgen klingelt bis in die späten Stunden mit dem Nachtprogramm im Fernsehen wird unser Gehirn mit ungefähr 3000 Werbebotschaften am Tag malträtiert. Jeden Tag ergießen sich geschätzt 12 Milliarden gedruckte Werbeanzeigen, drei Millionen Radiowerbespots, mehr als 200000 Fernsehwerbespots und eine unübersehbare Anzahl von Onlinewerbebotschaften und Spam-Mails in unser kollektives Unterbewusstsein. Kommerzielle Werbung ist das größte psychologische Experiment, das je mit der Menschheit durchgeführt wurde. Ihre Auswirkungen auf uns bleiben trotzdem bisher unergründet und unbekannt.

Als wir das erste Mal ein verhungerndes Kind abends im Fernsehen sahen, waren wir entsetzt. Vielleicht haben wir Geld gespendet. Doch als diese Bilder immer normaler wurden, verschwand allmählich unsere Fähigkeit, Mitleid zu empfinden. Schließlich störten uns diese Bilder nur noch, widerten uns sogar an. Und wenn wir heute wieder ein verhungerndes Kind sehen, empfinden wir nichts mehr.

Ein durchschnittlicher Nordamerikaner wird jede Stunde zur Hauptsendezeit im Fernsehen mit einem halben Dutzend gewalttätiger Akte (Morde, Schießereien, Autoverfolgungsjagden, Vergewaltigungen) konfrontiert. Wenn es um Sex in den Medien und Pornos im Internet geht, wissen wir alle, was unsere Aufmerksamkeit erregt und uns vom Umschalten abhält: Schmollmünder, kecke Brüste, knackige Hintern, die Lebhaftigkeit der Superjugend. Diese Sozialisierung in einem gewalttätigen, erotisch aufgeladenen medialen Umfeld verändert unsere Psyche grundlegend. Durch sie wird unser Sexualempfinden verdreht ? z.B. was man fühlt, wenn einem jemand plötzlich die Hand auf die Schulter legt oder einen umarmt oder mit einem flirtet ? und sie ändert auch, wie wir über uns selbst als sexuelle Wesen denken. Dieser nicht enden wollende Strom an kommerziellen, mit Gewalt und Pseudo-Sex vollgestopften Drehbüchern macht uns immer voyeuristischer, unersättlich und aggressiv. Irgendwann schockt uns dann gar nichts mehr, und sei es Vergewaltigung, Folter, Völkermord und Kriegspornographie.

Werbemedien sind für die geistige Umwelt, was Fabriken für die körperliche Umwelt sind. Fabriken verschmutzen Wasser und Luft, weil sie so auf effizientestem Wege Plastik, Zellstoff oder Stahl herstellen können. Ein Fernsehsender oder eine Internetseite verschmutzen das kulturelle Umfeld, weil sie so auf effizientestem Wege Einschaltquoten oder Klicks produzieren. Verschmutzung zahlt sich aus. Realer Negativausfall entsteht lediglich durch die Produktionskosten für die Show.

Wir konsumieren immer flachere und homogenere Nachrichten. Sie werden produziert, um Millionen Menschen zu erreichen, und deshalb fehlt es ihnen oft an Zwischentönen, Komplexität und Inhalt. Wir lesen alle die gleichen Fakten auf Wikipedia und schauen die gleichen Hitvideos auf YouTube ? so verflacht unsere Kultur.

Diese kulturelle Homogenisierung hat schwerwiegendere Auswirkungen als die andauernde Vermarktung der immer gleichen Frisuren, Slogans, Actionheldpossen und Videoclips in der ganzen Welt. In jedem System ist Homogenisierung Gift. Ein Mangel an Vielfalt führt zu Leistungsschwäche und Misserfolg. Für unser langfristiges Überleben ist Informationsvielfalt genauso wichtig wie Artenvielfalt. Beide sind Fundamente menschlicher Existenz.

Anfangs war all diese Information noch angenehm. Man kam sich vor, als sei jegliches Wissen nur einen Hyperlink weit weg. Munter hüpften wir den Pfad der Informationen entlang, schrieben E-Mails an unsere Freunde, setzten Lesezeichen und surften bis spät in der Nacht von Seite zu Seite. Als jedoch der anfängliche Zauber verflogen war, blieben wir in einer Art digitaler Betäubung zurück: unkonzentriert, benebelt, unruhig und übermüdet.

Was als amüsantes Herumspielen begann, ist nun für viele Menschen ein täglicher Zwang. Durch unsere Smartphones, Netbooks und Computer sind wir andauernd online. Wir schreiben SMS an unsere Freunde und empfangen Twitter-Updates, egal ob wir in der Schlange im Supermarkt stehen, abends spazieren gehen, ein Buch lesen oder sogar im Konzert sitzen. Wir ertrinken in dieser endlosen Flut der Konnektivität. Die Generationen der Zukunft werden wahrscheinlich noch vernetzter sein. Eine Studie des ?Pew Research Center? ergab, dass amerikanische Teenager 50 oder mehr SMS am Tag schreiben, ein Drittel von ihnen sogar mehr als 100 täglich. Eine zweite Studie der ?Kaiser Family Foundation? führte zu der Erkenntnis, dass amerikanische Jugendliche im Alter von 8 bis 18 Jahren durchschnittlich 7 ? Stunden täglich irgendein technisches Hilfsmittel nutzen.

Unsere Onlineexistenz beeinträchtigt wahrscheinlich nun unsere Fähigkeit, einen längeren Gedankengang zu entwickeln, fundiert über etwas nachzudenken und verhindert es vielleicht sogar, dass wir kreative ?ekstatische Höhen oder tragische Tiefpunkte? erreichen. Vielleicht leiden wir an der Informationskrankheit, wie sie Nicolas Carr zuerst bei sich selbst diagnostiziert hat. Er schreibt: ?In den letzten Jahren hatte ich das unangenehme Gefühl, dass etwas oder jemand an meinem Gehirn herumgepfuscht hat und dabei die Nervenkreisläufe neu angeordnet hat und Erinnerungen umprogrammiert hat? das Netz scheint meine Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation auszulöschen. Mein Verstand möchte nun Information so aufnehmen, wie sie im Netz verbreitet wird: in einem schnellen Strom von Informationspartikeln. Früher war ich Tiefseetaucher im Wörtermeer. Jetzt flitze ich auf der Oberfläche herum, wie ein Typ auf einem Jetski.?

Im Wettbewerb um wirtschaftliches Wachstum haben wir Ölreserven ausgebeutet, uralte Wälder zu Zellstoff verarbeitet und so lange Wasser gepumpt, bis die Brunnen ausgetrocknet sind. Jetzt beuten wir ?alte gewachsene Kultur? aus ? und saugen die uns von vorhergehenden Generationen hinterlassene Geschichte, Mythologie, Musik, Kunst und Ideen aus. Unsere komplette Vergangenheit wird wie Leichen gefleddert, wieder aufbereitet, neu abgemischt, wieder hochgewürgt, ausgespuckt und neu bestimmt.

Jaron Lanier, geistiger Vater der ?virtuellen Realität?, ist wohl der respektabelste und freimütigste Technologe, der ein beunruhigendes Defizit in unserer kulturellen Gesundheit erkennt. In seinem Buch You Are Not a Gadget: A Manifesto, schreibt Lanier, dass unsere Kultur mittlerweile eine des nostalgischen Neu-Mischens ist, in der authentische ?Äußerungen ersten Ranges? in ihre Einzelteile zerlegt werden und anschließend zu einem Ableger, einer ?Äußerung zweiten Ranges? verarbeitet werden. Obwohl Lanier keine konkreten Kriterien angibt, wie beide zu unterscheiden sind, sagt er doch, dass eine Äußerung ersten Ranges dadurch ausgemacht wird, dass sie ?etwas wirklich Neues zu unserer Welt beiträgt? ? während Ableger Ideen erneut aufgreifen, wiederholen und innovationslos sind.

Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die unser kulturelles Erbe wie eine Ressource zur Ausbeutung betrachtet. Anstatt neue, ehrliche Kunstwerke zu produzieren, die unsere geistige Umwelt bereichern würden, bejubeln wir den Amateur, dessen Ideencollagen vielleicht erheiternd sind, aber nichts Wertvolles zur kulturellen Kommunikation beitragen. Das beunruhigt besonders, wenn man bedenkt, dass ? so wie Boden nur eine begrenzte Menge an Nährstoffen hat ? die Vergangenheit nur eine begrenzte Menge Kreativität zur Verfügung stellen kann. Wirklich große Kunst gibt es selten, und es kann nur eine begrenzte Anzahl Collagen geben, bevor sich die ursprüngliche Kraft eines wahren Kunstwerks erschöpft hat. Ohne selbst authentische Kultur hervorzubringen, verkommt unsere geistige Umwelt zu einer kahlgerodeten, überbeanspruchten, ausgebeuteten Einöde.

Um es mit Lanier zu sagen: ?Wir befinden uns in einer Situation, in der die Kultur mehr oder weniger ihren eigenen Vorrat an Saatgut auffrisst.?

Wir stehen am Rande einer synergetischen Katastrophe. Der finanzielle, ökologische und ethische Kollaps zeichnet sich ab, während die Zahl psychischer Erkrankungen kontinuierlich weiter steigt. Die Welt ist buchstäblich verrückt geworden.

Doch langsam kann man leise Anzeichen für ein Aufbegehren wahrnehmen, da immer mehr Leute ihre Ängste, Stimmungsstörungen und Depressionen auf die Gifte in unserer geistigen Umwelt zurückführen. Geschwärzte Werbeplakate, wegweisende Entschleunigungsversuche, revolutionäre Provokationen in scheiternden Staaten ? wir erleben gerade die Geburtswehen des wichtigsten Aufbegehrens im 21. Jahrhundert. Eine Radikalisierung unserer Seele wird folgen, ebenso wie ein Aufstand gegen die Produktion lügnerischer Wirtschafts- und Werbebotschaften. Was hier und heute beginnt, wird als die Bewegung für geistigen Umweltschutz bekannt werden.

Original title: 
Ecology of the Mind